I. Geistig behinderte Erwachsene

I.1. Begriffsbestimmungen

Es ist notwendig, zunächst die Begriffe Behinderte und Geistigbehinderte genauer zu bestimmen, da es keine allgemein anerkannten Definitionen, sondern eine Vielzahl von Ansätzen gibt – aus medizinischer, philosophischer oder juristischer Sicht. Mithin erheben folgende Bestimmungen ebenfalls keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Sie dienen dem Zweck, den Personenkreis einzugrenzen und eine Konzeption für sozialpädagogische Interventionen zu entwickeln.

I.1.a.) Behinderte allgemein

Behinderungen sind Beeinträchtigungen einzelner Personen aller Altersstufen aufgrund regelwidriger körperlicher, geistiger oder seelischer Ursachen. Diese Beeinträchtigungen sind umfänglich, schwer und nicht nur vorübergehend, dabei aber prinzipiell mobil, also veränderlich. Wegen der Beeinträchtigungen ist dem Behinderten eine unmittelbare und unabhängige Lebensführung sowie seine Fähigkeit zur Teilnahme an der Gesellschaft wesentlich erschwert. Deshalb bedarf der Behinderte besonderer Maßnahmen zur gesellschaftlichen Eingliederung.

Behinderungen sind relativ: »Die Aussage darüber, was als Behinderung bezeichnet wird, hängt neben den Merkmalen der Person weitgehend auch von den allgemeinen Wertsetzungen, Erwartungen und Gewohnheiten in der Gesellschaft ab.« (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 34) Daher ist Behinderung vorwiegend eine soziale Kategorie. Die auf Ideale hin ausgelegte Gesellschaft setzt über ihre Normen und Erwartungen auch indirekt fest, was als Behinderung zu gelten hat. Es kommt zudem darauf an, wie die Gesellschaft oder die nähere soziale Umgebung auf Behinderung reagiert. Dies steht der häufigen Auffassung entgegen, daß jemand bereits als unmittelbar behindert gilt, wenn er nur ein Defizit an körperlichen, geistigen oder seelischen Fähigkeiten hat.

Im alltäglichen Sprachgebrauch werden Nichtbehinderte im Gegensatz zu Behinderten oft als normal oder gesund bezeichnet.

Um von Nichtbehinderten als »Normalen« sprechen zu können, müßte erst bestimmt werden, was denn normal ist. Handelt es sich bei der Norm um das statistische Mittel oder um das, was die Gesellschaft als Ideal festgelegt hat und anzustreben versucht? Auf jeden Fall kommt von »Normalen« zu sprechen einer Ausgrenzung und Diskriminierung Behinderter als »Abnormale« gleich und sollte daher unterlassen werden.

Einige Autoren sprechen von »Gesunden«, wenn sie Nichtbehinderte meinen und den Gegensatz zu Behinderten hervorheben wollen (vgl. Lindsay 1973, Kaminski/Spellenberg 1975). Doch bei Behinderten von »Kranken« zu sprechen, ist schlicht nicht korrekt, denn im medizinischen Sinne können Behinderte genauso wie Nichtbehinderte krank oder gesund sein. Gesundheit bedeutet laut der Definition der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen allseitiges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden (vgl. Fachlexikon der sozialen Arbeit 1993). Abgesehen von der Vagheit dieser Definition – wer kann schon von sich sagen, daß er sich stets so umfassend wohlfühlt? – ist es immerhin möglich, daß der Behinderte trotz der Behinderung guter Verfassung ist. Behinderung an sich ist also keine Krankheit; sie kann allerdings die Folge einer Erkrankung sein.

Behinderungen können grob in die drei Bereiche körperliche, geistige und seelische Behinderungen aufgeteilt werden. Körperbehinderungen im weiten Sinne umfassen Hörschädigungen von Gehörlosigkeit bis Schwerhörigkeit, Sehschädigungen von Blindheit bis Sehbehinderungen, Sprachbehinderungen und Motilitätsbehinderungen. Körperbehinderungen im engen Sinne beruhen auf der Beeinträchtigung der körperlichen Bewegungsmöglichkeiten. Geistige Behinderungen mit ihren Übergangsformen zur Lernbehinderung werden im nächsten Unterpunkt näher beschrieben. Von seelischen Behinderungen spricht man bei chronisch psychisch Kranken. Darüberhinaus kann es auch zu Kombinationen von Behinderungen aus den drei Bereichen kommen, die man als Mehrfachbehinderungen bezeichnet (vgl. Bach 1979).

I.1.b.) Geistigbehinderte

Für den Begriff der geistigen Behinderung gelten im wesentlichen dieselben Faktoren wie für den der Behinderung allgemein:

Geistige Behinderungen sind Beeinträchtigungen einzelner Personen aller Altersstufen, insbesondere in der Denkfähigkeit, im Lernverhalten, im sozialen Verhalten und in der sprachlichen Kommunikation. Diese Beeinträchtigungen sind wiederum umfänglich, schwer, nicht nur vorübergehend, aber prinzipiell mobil. Auch dem Geistigbehinderten ist eine unmittelbare und unabhängige Lebensführung und Teilnahme an der Gesellschaft erschwert. Neben Maßnahmen zur gesellschaftlichen Eingliederung bedarf der Geistigbehinderte deshalb besonderer, in der Regel lebenslanger, pädagogischer Förderung, die über das im allgemeinen zu Erwartende wesentlich hinausgeht.

In der Literatur wird bei einem Intelligenzquotienten von unter 55/60 von geistiger Behinderung gesprochen (vgl. Bach 1979, Mühl 1994, Speck 1990).

Von Geistigbehinderten zu unterscheiden sind Lernbehinderte. Deren intellektuelle Beeinträchtigung ist durch geringeren Umfang und Schwere gekennzeichnet. Der Übergang zwischen diesen beiden Gruppen ist fließend. Diese Abgrenzung wurde zu schulorganisatorischen Zwecken aufgestellt: Von Belang ist eine Unterscheidung dann, wenn es darum geht, die entsprechende Schulform für eine Person zu bestimmen – die Lernbehindertenschule oder die Geistigbehindertenschule. Ausschlaggebend für die Zuordnung zu einer dieser Gruppen ist der Wert des Intelligenzquotienten. Lernbehindert sind Schüler, die den Leistungserwartungen über mindestens ein Jahr nicht entsprechen und deren IQ zwischen 55/60 und 75/80 liegt (vgl. Bach 1981).

I.2. Merkmale von geistiger Behinderung

Die Bezeichnung einer Gruppe Menschen als Geistigbehinderte darf nicht dazu verleiten, diese Gruppe als homogen anzusehen. Bei aller Ähnlichkeit müssen die individuellen Unterschiede ausreichend berücksichtigt werden. Es gibt nicht den Geistigbehinderten an sich, quasi den »normalen Geistigbehinderten«. Jeder Behinderte zeichnet sich durch ein eigene Persönlichkeit aus – eine Persönlichkeit, die zwar sehr stark von der Behinderung geprägt ist, jedoch nicht ausschließlich von dieser. Es gilt – insbesondere bei sozialpädagogischen Interventionen – auch die weiteren Persönlichkeitsanteile des Geistigbehinderten zu berücksichtigen, wie zum Beispiel seine individuellen Bedürfnisse, Interessen, Einstellungen und weitere Wesenszüge.

Geistige Behinderung ist in der Regel Mehrfachbehinderung: Es liegen meist zusätzliche Schädigungen vor, wie Sprachauffälligkeiten, Sehschäden, Verhaltensstörungen, motorische Störungen oder innere Erkrankungen, zum Beispiel Herzfehler und Anfallsleiden (vgl. Speck 1990).

I.2.a.) Entstehung von geistigen Behinderungen

Vom sozialpädagogischen Standpunkt aus sind die Fragen nach der Ursache – oder besser: den Ursachen – einer geistigen Behinderung zweitrangig. Die bloße Inbetrachtziehung der Ursachen gibt noch keinen Aufschluß über die aktuelle Lage des Behinderten und auch nicht über die Möglichkeiten adäquater Förderung. Es ist jedoch nötig, an dieser Stelle auf die Entstehungsbedingungen einzugehen, um aufzuzeigen, in welchen Bereichen eine geistige Behinderung veränderbar ist und in welchen nicht.

Die Ursachen einer Behinderung sind oft unklar; es sind meist nur die Auswirkungen zu sehen. Auch kommt es häufig zu Kopplungen der Entstehungsbedingungen, was die Ursachenfeststellung noch erschwert. Die Bedingungen, die zu geistiger Behinderung führen, können grob in zwei Bereiche aufgeteilt werden: hirnorganische und soziokulturelle Ursachen. Behinderung im Leben ergibt sich aus dem Zusammenwirken einer hirnorganischen Schädigung mit individuellen Persönlichkeitsfaktoren und mit sozialen Bedingungen und Einwirkungen (vgl. Speck 1990).

Geistige Behinderungen entstehen zum überwiegenden Teil infolge schädigender Einflüsse, die die Funktion des Gehirns beeinträchtigen. Diese hirnorganischen Schädigungen können angeboren oder erworben sein. Man spricht von endogenen und exogenen Ursachen (vgl. Bach 1979):

Zu den endogenen, chromosomal verursachten Schädigungen gehört als der häufigste Chromosomenfehler die Trisomie 21, nach ihrem Entdecker Down-Syndrom genannt. Bei davon betroffenen Menschen ist das Chromosom 21 dreimal vorhanden. Weniger häufig ist der Fehler beim Geschlechtschromosom, das sogenannte Klinefelter-Syndrom. Zu den genetisch verursachten Schädigungen gehören vererbbare Stoffwechselkrankheiten wie zum Beispiel die Phenylketonurie. Durch sie kann es zu Vergiftungserscheinungen im Gehirn kommen, da bestimmte Stoffwechselprodukte vom Körper nicht abgebaut werden können und sich daher im Gehirn anhäufen.

Exogene Ursachen für Behinderungen sind Schädigungen, die prä-, peri- und postnatal auftreten: Pränatale Schädigungen können durch Infektionen, Strahlen, Umweltgifte, Medikamenten-, Drogen- oder Alkoholmißbrauch der Mutter während der Schwangerschaft oder durch Frühgeburt entstehen. Von perinatalen Hirnschädigungen wird gesprochen bei Hirnblutungen oder Sauerstoffmangel des Kindes während der Geburt. Postnatale Schädigungen entstehen durch Erkrankungen oder Verletzungen und Unfälle zumeist in den ersten Lebensjahren.

Hirnorganische Schädigungen sind die Hauptursache von geistigen Behinderungen; hinzu kommen allerdings noch verstärkende Faktoren der sozialen Umwelt, die an der Entstehung und vor allem an der Schwere der Behinderung beteiligt sind. Der Lebensweg ist oft von abträglichen Sozialisationsprozessen geprägt. Speck erwähnt hierzu gesellschaftliche Bedingungen wie die Einstellungen der Umwelt zum Behinderten, die mangelnde Hilfe und Förderung, die familiale Situation, die soziale Benachteiligung und die mangelhaften Wohnverhältnisse (vgl. Speck 1990). Als verstärkender Faktor sei der Hospitalismus genannt, also dauerhafte Frustration im frühkindlichen Alter, Vernachlässigung und in deren Folge psychische Deprivation.

Prinzipiell sind geistige Behinderungen nicht statisch. Das heißt, sie sind nicht unveränderlich, sondern stetigen Veränderungen unterworfen. Ohne pädagogische Maßnahmen geschieht diese Veränderung jedoch ziellos. Die Möglichkeit zur Veränderung der spezifischen Behinderungsqualität ergibt vielfältige sozialpädagogische Beeinflussungsmöglichkeiten, um die Lebenssituation des Geistigbehinderten zu verbessern. Hirnorganische und soziokulturelle Schädigungen sind nicht getrennt zu sehen, sondern beide als Faktoren zu berücksichtigen, die sich wechselseitig beeinflussen. Zu beachten ist allerdings, daß massive Hirnfunktionsstörungen sich selbst durch optimale Förderung und Integration nicht ganz eliminieren lassen. Sozialpädagogisch anzusetzen ist also insbesondere da, wo soziokulturelle Ausprägungen der Behinderung gemildert oder behoben werden können. Es sollte daher bei geistiger Behinderung nicht von Heilbarkeit oder Unheilbarkeit gesprochen werden, sondern von Mobilität, denn die Behinderung an sich ist nicht heilbar, sondern ausschließlich in ihrer Qualität oder Schwere beeinflußbar. »Geistige Behinderung bezeichnet also zu einem bestimmten Zeitpunkt den jeweils erreichten Stand eines Menschen in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Sie ist als prozeßhaftes, dynamisches Geschehen zu verstehen.« (Feuser 1982, S. 133)

I.2.b.) Psychologische Entwicklung von Geistigbehinderten

Gemäß dem Kontinuitäts-Axiom der Psychologie ist Veränderung das einzig Sichere im Leben eines Menschen. Der stete Wandel ist somit ein Wesensmerkmal des menschlichen Daseins. Entgegen älterer Auffassung findet Entwicklung nicht nur in der Kindheit statt, sondern verläuft als ein lebenslanger Prozeß (vgl. Oerter/Montada 1995).

Entwicklung wird aufgrund verschiedener Ursachen in Gang gehalten: Zum einen durch Reifung und Entfaltung von Anlagen, die genetisch programmiert sind. Zum anderen durch Einwirkungen der sozialen Umwelt und die Sozialisation des einzelnen. Gemäß der Interaktionstheorie nach Piaget orientiert sich die Person und gestaltet aktiv ihr Leben selbst; Entwicklung ist das Ergebnis des Zusammentreffens innerer Angelegenheiten mit äußeren Entwicklungsbedingungen (vgl. zu Piaget: Montada, Leo: Die geistige Entwicklung aus der Sicht Jean Piagets, in: Oerter/Montada 1995, S. 518-560)

Die Bereiche des psychischen Lebens entwickeln sich in folgender Reihenfolge (vgl. Oerter/Montada 1995, Feser 1981): An erster Stelle steht die körperliche Entwicklung mit den physiologische Grundbedürfnissen wie Hunger, Durst, Sexualität und Sicherheit. Es folgt die emotional-dynamische Entwicklung, bei der sich Wille, Gefühle, Stimmungen, Affekte und Motivationen herausbilden. Der Hauptbereich der psychologischen Entwicklung einer Person ist die kognitive Entwicklung. Sie umfaßt die Wahrnehmung, das Gedächtnis, das Denken und das Lernen. Als Teil der kognitiven Entwicklung entwickelt sich ebenfalls die Fähigkeit zu malen (siehe dazu auch Malstadien unter II.2.a.). Als letztes steht die soziale und moralische Entwicklung an. Diese Reihenfolge betrifft allerdings nur den Beginn des jeweiligen Entwicklungsbereichs; während des Lebens kommt es zu ständigen Überschneidungen, denn Entwicklung ist kein abgeschlossener Prozeß.

Es sind unterschiedliche Kriterien zur Abgrenzung von Phasen und Stufen gewählt worden, die den Entwicklungsverlaufs einteilen. Allen Autoren gemein ist die Auffassung, daß für die Entwicklung kein allgemeines Ziel angegeben werden kann. Wohl können aber Entwicklungsaufgaben für die einzelnen Lebensaltersstufen ausgemacht werden. »Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die sich in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums stellt.« (Havighurst 1982; vgl. zu Havighurst, R. J.: Oerter, Rolf: Kultur, Ökologie und Entwicklung, in: Oerter/Montada 1995, S. 120-127). In jeder Lebensaltersstufe muß laut Havighurst jeder Mensch gewisse Entwicklungsaufgaben erfüllen.

Geistige Behinderungen bestehen wie oben vermerkt meist von Geburt an oder seit sehr frühem Lebensalter. Beim Geistigbehinderten ist diese Entwicklung des individuellen Erlebens und Verhaltens daher zum Teil stark beeinträchtigt. Die dauerhafte Schädigung der Intelligenz kann zu einer Verzögerung und auch Begrenzung in der Bewältigung der Entwicklungsstufen und somit zu einer Verschärfung der Behinderung führen.

Die psychologische Entwicklung des Geistigbehinderten verläuft in der Regel in derselben Reihenfolge wie die des Nichtbehinderten. Doch bei geistiger Behinderung zeichnet sich die Entwicklung durch starke Verlangsamung und Unregelhaftigkeit aus. Statt sich kontinuierlich weiterzuentwickeln, verharrt der Geistigbehinderte oft lange auf einer Entwicklungsstufe. Im Gegensatz dazu sind auch plötzliche Schübe starker Veränderungen möglich, in denen die Entwicklung analog zu der von Nichtbehinderten vorankommt. Diese Schubphasen werden jedoch stets von andauernden Plateauphasen unterbrochen. Außerdem treten auch immer wieder unerwartete Rückschritte auf (vgl. Mühl 1994).

In der Entwicklungspsychologie wurden bestimmte Altersstufen herausgefunden, in denen ein Kind in der Regel bestimmte Funktionen, Fertigkeiten und Fähigkeiten erwirbt. Der Grad der Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe beeinflußt die weitere Entwicklung. Was in frühen Lebensphasen an Förderung versäumt wurde, läßt sich in späteren Lebensphasen meist nicht mehr nachzuholen. Wird die beständig fortschreitende Entwicklung unterbrochen oder verzögert, dann läßt das lange Stehenbleiben auf einer Entwicklungsstufe Teile dieses Lernprozesses unwiederbringlich verlorengehen. Der Geistigbehinderte ist in seinen Möglichkeiten zur Veränderung von Verhalten und Leistung begrenzt und hat sein Leben lang damit zu tun, diese Defizite aufzuholen oder zu kompensieren. Es ist also neben der Verlangsamung und Unregelhaftigkeit auch von der grundsätzlichen Einschränkung der Entwicklung auszugehen.

Beim Nichtbehinderten verlaufen die physiologische Entwicklung und die psychologische Entwicklung weitgehend parallel. Die körperliche Entwicklung des Geistigbehinderten vollzieht sich annähernd normal, sie ist allerdings durch gesundheitliche Faktoren und Beeinträchtigungen der Motorik beeinflußt. Weitaus drastischer hingegen verzögert sich die psychologische Entwicklung. Mit zunehmendem Alter wird die Diskrepanz zwischen beiden immer auffälliger.

Aufgrund der Unregelhaftigkeit läßt sich kein typischer Verlauf der psychologischen Entwicklung Geistigbehinderter ausmachen. Es ist immer nur der Einzelne mit seiner individuellen Entwicklung zu sehen.

Dem geistig behinderten Erwachsenen stellen sich die Entwicklungsaufgaben der Jugend und des frühen Erwachsenenalters:

»Jugend (18-22 Jahre):

Frühes Erwachsenenalter (23-30 Jahre)

(Oerter/Montada 1995, S. 124)

Dem geistig behinderten Erwachsenen stellen sich in der Regel jedoch überdies auch noch die Entwicklungsaufgaben aus jüngeren Lebensaltern, die aufgrund der Unregelhaftigkeit seiner Entwicklung nur unzureichend erfüllt sind. Der erwachsene Geistigbehinderte hat also noch die Aufgaben des Jugend- und des Erwachsenenalters und wieder die der Kindheit zu erfüllen. Im Resultat bedeutet das für den Einzelnen, daß sich die Entwicklungsaufgaben häufen.

Gemäß der Stadienlehre der kognitiven Entwicklung nach Piaget verläuft die Entwicklung von sensomotorischer Intelligenz über konkret-anschauliche Denkoperationen zu formalen-abstrakten Denkoperationen. Die kognitive Entwicklung Geistigbehinderter endet in einem frühen bis mittleren Stadium und verharrt in den meisten Fällen auf der Stufe des anschaulichen Denkens und erreicht nur selten die Schwelle zu konkret logischem oder gar abstraktem Denken (vgl. Bach 1979). Schwerst Geistigbehinderte bleiben meist gar auf dem Niveau sensomotorischer Operationen.

Aufgrund der verlangsamten und begrenzten Entwicklung ähnelt das wahrgenommene Verhalten und die Leistung geistig behinderter Erwachsene in Teilbereichen dem nichtbehinderter Kinder. Daher drängt sich oft eine Gleichstellung mit Kindern auf. Diese ist jedoch nicht zulässig. Geistig behinderte Erwachsene sind Erwachsene. Dieser lapidaren Feststellung wird in der Praxis – und auch in der Literatur (vgl. Kaminski/Spellenberg 1975) – oftmals nicht Rechnung getragen. Es erscheint daher notwendig, deutlich darauf hinzuweisen, daß der geistig behinderte Erwachsene trotz der partiellen Ähnlichkeit einiger seiner Verhaltensweisen mit denen eines Kindes nicht als solches anzusehen sind, geschweige denn als solches zu behandeln.

Was aber macht das Wesen von Erwachsensein aus? Früher wurde davon ausgegangen, daß Erwachsensein bedeutet, für sich selbst aufkommen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen können. Der Begriff des Erwachsenseins ist heute jedoch nicht mehr so eindeutig: Die Kriterien haben sich gewandelt. So sind auch nichtbehinderte Erwachsene nach der Kriterium der Selbständigkeit und finanziellen Unabhängigkeit lange Zeit nicht erwachsen, zum Beispiel der 25-jährige Student, der bei den Eltern wohnt und von ihnen finanziert wird. Dieser kann womöglich genauso wenig für sich selbst aufkommen, wie ein Geistigbehinderter, wenn auch aus anderen Gründen. Doch würde niemand dem 25-jährigen Nichtbehinderten seinen Erwachsenenstatus absprechen.

Die Entwicklung zum Erwachsenen stellt einen Prozeß dar, bei dem der Mensch die Verhaltensmuster, Normen und Einstellungen erlangt, die für seine Kultur und Gesellschaft maßgeblich sind. Erwachsenwerden ist somit eine Entwicklungsaufgabe, die nicht mit einem Mal erfüllt werden und dann als bewältigt gelten kann; sie muß immer wieder erfüllt werden.

Man kann bei Geistigbehinderten nicht von kindlichem Verhalten sprechen, denn das Verhalten mag zwar dem eines Kindes ähneln, jedoch tut es dies nicht durchgängig. In verschiedenen Situationen mag der Behinderte einmal so ähnlich wie ein 3-Jähriger, ein andermal so wie ein 10-Jähriger und wiederum ein andermal wie ein nichtbehinderter Erwachsener reagieren. Auch wenn er seiner Intelligenz nach auf der Stufe eines Kindes steht, darf der geistig behinderte Erwachsene nicht mit Kindern im Vorschulalter gleichgesetzt werden:

Bereits das körperliche Erscheinungsbild macht offenbar, daß geistig behinderte Erwachsene eindeutig Erwachsene sind. Sie haben eine Pubertät durchlebt und sind körperlich und geschlechtlich erwachsen und haben auch dementsprechende Bedürfnisse.

Der geistig behinderte Erwachsene ist zwar in der kognitiven Bewältigung seiner Entwicklungsaufgaben behindert, doch besteht das Bedürfnis sie zu erfüllen sehr wohl. Bedeutende Bedürfnisse sind insbesondere die Loslösung von Abhängigkeit und Erlangung von Autonomie, Antworten auf Fragen nach dem Sinn und das Verlangen, etwas Sinnvolles für das soziale Umfeld zu leisten. Diese Bedürfnisse machen ihn erwachsen.

Eine weitere gewichtige Tatsache, die für sein Erwachsensein spricht, ist seine Teilnahme am Arbeitsleben. Auch wenn es nicht zur eigenständigen Bestreitung der Lebenskosten ausreicht, geht der Behinderte in der Regel in eine Werkstatt für Behinderte und leistet in seinem Rahmen Arbeit. Das Schwerbehindertengesetz spricht von einem »Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeit«, die der Behinderte zu leisten aufgefordert ist (vgl. § 54 Schwerbehindertengesetz).

Aus dem bisher genannten geht also hervor, daß es nicht gerechtfertigt ist, bei einem geistig behinderten Erwachsenen von einem Kind in einem Erwachsenenkörper zu sprechen. Seine Persönlichkeit mit ihren Bedürfnissen ist nämlich durchaus erwachsen und seine Probleme sollten daher auf keinen Fall als belanglos abgetan werden. Er hat ein Recht darauf, als Erwachsener ernstgenommen zu werden.

I.2.c.) Fähigkeiten und Verhaltensweisen Geistigbehinderter

Um sinnvolle pädagogische Maßnahmen einzuleiten, ist es notwendig, sich mit den speziellen Eigenschaften der Zielgruppe auseinanderzusetzen. Es gibt beim Geistigbehinderten Ausprägungen in Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die ihn vom Nichtbehinderten unterscheiden. Es ist jedoch nicht gerechtfertigt, hierbei nur die Mängel und Defizite zu beachten, auch wenn diese überwiegen. Genauso gilt es, die Ressourcen und Kompetenzen, die sich aus dem Anderssein des Behinderten ergeben, hervorzuheben und bei der Planung sozialpädagogischer Maßnahmen angemessen zu berücksichtigen.

Der Pädagoge muß wissen, in welchen Bereichen Beeinträchtigungen vorliegen, und ob und inwiefern daran etwas geändert werden kann oder soll.

Zur allgemeinen Dominanz der Defizite kommt erschwerend hinzu, daß diese sich meist gegenseitig beeinflussen. All das schlägt sich letztlich im kommunikativen und sozialen Verhalten ungünstig nieder.

Geistigbehinderte sind entscheidend geprägt von Beeinträchtigungen verschiedener Art, die in drei Bereichen hemmend wirken:

Dominant, aber auch wichtigster Ansatzpunkt pädagogischer Arbeit ist der Bereich der kognitiven Funktionen. Er umfaßt die Funktionen der Erkenntnisgewinnung und Informationsverarbeitung. Darunter sind Prozesse sowohl der Wahrnehmung, des Denkens als auch des Gedächtnisses, wie Lernen, Behalten und Erinnern, zu verstehen. Verlangsamung und Begrenzung der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen schränken den Geistigbehinderten so weit ein, daß er auf einer unteren Stufe der Kognition verharrt und ihm das Erreichen einer höheren Stufe erschwert ist.

Als Teilbereich der Kognition ist die Wahrnehmung des Geistigbehinderten beeinträchtigt. Dabei liegt in erster Linie keine Schädigung der Sinnesorgane vor, sondern die eingeschränkte Fähigkeit, die aufgenommenen Informationen adäquat zu verarbeiten. Oft sind jedoch aufgrund einer Mehrfachbehinderung auch die Sinnesorgane selbst geschädigt. Es ist von einer Beeinträchtigung der Wahrnehmungsfähigkeiten auszugehen, die Lernen zur Voraussetzung hat. Beeinträchtigungen der Fein- und Grobmotorik und Bewegungskoordinationsstörungen schränken die Wahrnehmung zusätzlich ein (vgl. Bach 1979).

Ein weiterer Bereich der Kognition ist das Denken. Darunter ist ein innerer Prozeß zu verstehen, der Aktivitäten umschreibt, die von außen nicht wahrgenommen werden können. Es handelt sich um das Herstellen von Ordnungen der angetroffenen Welt, um die Bildung und Verwendung von Begriffen und die Erfassung von Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen. Denken umfaßt ferner das Planen und das Lösen von Problemen (vgl. Fachlexikon der sozialen Arbeit 1993).

Während bei nichtbehinderten Erwachsenen abstrakte Denkvorgänge möglich sind, herrscht bei Geistigbehinderten anschauliches Denken vor: Das Begreifen eines Sachverhalts hat sehr viel mit dem Greifen der Sache zu tun. Gemäß der Stadienlehre der geistigen Entwicklung nach Piaget befinden sie sich meist auf den Stufen der sensomotorischen Intelligenz und des voroperatorischen, anschaulichen Denkens (vgl. Oerter/Montada 1995). Seltener wird das Stadium der konkret-operatorischen Strukturen erreicht. Dies beeinträchtigt die Fähigkeit zur Einsicht und zum Generalisieren. Lernen kann daher nur durch ständiges Üben geschehen. Abstrakte Denkoperationen sind erschwert. Weil Geistigbehinderte beeinträchtigt sind bei der geistigen Bewältigung komplexer Sachverhalte, sind sie oft nicht in der Lage, eine Situation oder eine Aufgabe den äußeren Anforderungen entsprechend zu erfassen.

Die Denkweise Geistigbehinderter ist auch dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre Sichtweise der Dinge als für die einzig mögliche halten, was ihr Verständnis für komplizierte soziale Beziehungen erschwert. Ihnen fehlt darüberhinaus die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Verhaltens und der eigenen Person. Dadurch ist ihnen der Aufbau eines Selbstbildes erheblich erschwert.

Desweiteren kennzeichnet den Geistigbehinderten ein Defizit im Bereich des Planens und Vorhersehens bestimmter Ereignisse, aber auch der Folgen des eigenen Handelns. Es ist ihm kaum möglich, längerfristig zu planen oder sich ein Lebensziel zu stecken. Auch das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung zu erfüllen setzt einen Plan voraus. Dies sorgt für Unzufriedenheit und beeinträchtigt die Lebensfreude. Situative Freude empfindet er bei Ereignissen, die im Rhythmus stattfinden: Wenn etwa »jeden Montag« eine bestimmte Unternehmung ansteht.

Aus den Defiziten bei Wahrnehmung und Denken folgt eine massive Beeinträchtigung beim Lernen. Der ebenfalls innere Prozeß des Lernens ist das Erwerben der Möglichkeit, das eigene Verhalten aufgrund von Erfahrung zu ändern. Lernen ist nicht mit der Verhaltensänderung selbst gleichzusetzen; es kann gelernt werden, ohne das dies an einer direkten Verhaltensänderung sichtbar wird.

Weil das Denken des Geistigbehinderten hauptsächlich anschaulich funktioniert, überwiegt bei ihm das anschaulich-vollziehende Lernen. Er lernt hauptsächlich mittels Gewöhnung. Aufgrund der vermuteten relativ geringen Abstraktionsfähigkeit ist ihm das Lernen aufgrund von Einsicht nur selten möglich. Das Lernverhalten des Geistigbehinderten zeichnet sich aus durch die generelle Verlangsamung der Lernprozesse: Daher ist sorgfältige Auswahl und Steuerung im Bereich des kognitiven, sozialen, emotionalen und motorischen Lernens vonnöten. Er leidet unter Lernschwierigkeiten aufgrund von Einschränkungen – motorischer oder sensorischer Art – in der Erfahrungsgewinnung. Oft kommen zu geringe aufmerksame Zuwendung, soziale Abweisung und Mißerfolgserlebnisse noch erschwerend hinzu. Das Lernfeld ist eingeengt auf räumlich und zeitlich Nahes. Der Behinderte ist aus eigenem Antrieb oft nur an dem interessiert, was seinen Lebensbedürfnissen direkt dient. Es fehlt ihm an Aufmerksamkeit und Spontaneität. Da ihm vorausschauende Planung schwerfällt, ist seine Fähigkeit zu selbständiger Aufgabengliederung begrenzt. Er bedarf daher spezieller Führung im Lernprozeß.

Aufgrund von Gedächtnisschwächen hat der Geistigbehinderte großen Wiederholungsbedarf. Das Gelernte ist gebunden an die ursprüngliche Situation, daher besteht zusätzlich Bedarf an Transfertraining.

Diese massiven Lernbeeinträchtigungen beeinflussen alle Fähigkeiten, die vom Lernen abhängig sind, deswegen letztlich auch besonders die Kommunikation und das soziale Leben.

Der Bereich der Motivation ist ebenfalls beeinträchtigt. Die Motivation besteht aus inneren Prozessen, die die Ursache für das Verhalten bilden, die den Menschen veranlassen, etwas zu tun oder zu lassen.

Im motivationaler Hinsicht sind Geistigbehinderte zwei polaren Tendenzen ausgesetzt: Zum einen der Antriebsschwäche, zum anderen der Antriebssteigerung (vgl. Bach 1979). Antriebsschwache, auch Torpide genannt, bewegen sich nur verlangsamt und bringen wenig eigene Initiative auf. Trägheit und reduzierte Spontaneität herrschen vor. Aufgrund der allgemeinen Verlangsamung ist der Geistigbehinderte nur schwer aktivierbar. Er handelt selten spontan oder aus eigenem Antrieb. Aufgrund seines langsamen, weniger steilen und weniger hohen Erregungsaufbau kommt es zu verzögerten Reaktionen. Antriebsgesteigerte, auch als Erethische bezeichnet, sind dauernd in Bewegung und leicht erreg- und reizbar. Sie sind ständig in Unruhe, ungezügelt und geben den augenblicklichen Bedürfnissen nach. Beide Gruppen zeichnet ein stark begrenztes Durchhaltevermögen aus. Zusätzlich steht mit Zunahme des Behinderungsgrades immer mehr das Lustprinzip im Vordergrund. Der Geistigbehinderte hat selten Einsicht in Verzicht, was sich oft in Frustration äußert.

Hinsichtlich des emotionalen Bereiches läßt sich sagen, daß er im Gegensatz zu Kognition und Motivation eher ein Gebiet der Stärke und Kompetenz Geistigbehinderter ist. Die Emotionen bilden ihre Ressourcen: Da sie vieles nicht kognitiv erfassen können, sind Geistigbehinderte verstärkt auf ihr Gefühl und ihre Intuition angewiesen und haben im Laufe ihres Lebens ein feineres Gespür für Emotionales entwickelt. Das Anderssein des Geistigbehinderten äußert sich hier einmal in positiven Kennzeichen, wie Zutraulichkeit, Anhänglichkeit, Direktheit, Hilfsbereitschaft, gefühlsmäßige Ansprechbarkeit und Musikalität. Er ist sensibler für Gefühlswerte und Stimmungen und kann daher eher die nonverbalen Anteile der Kommunikation registrieren.

Auch andere Fähigkeiten können gut oder sehr gut entwickelt sein: Kompetenzen haben Geistigbehinderte vor allem in motorischen Fähigkeiten, in ihrer Bewegungsfreude und in ihrer Ausdauer bei der Bewältigung bestimmter Aufgaben.

Infolge der Beeinträchtigungen auf kognitivem, motivationalen und emotionalen Gebiet kommt es auch zu Beeinträchtigungen im sprachlichen und im kommunikativen Verhalten. Sprachliches Verhalten wird hier als Grundlage für kommunikatives Verhalten aufgefaßt.

Zum einen besitzt der Geistigbehinderte nur eine eingeschränkte Fähigkeit zu sprechen. Aufgrund motorischer Ursachen ist es ihm bei häufig zusätzlicher körperlicher Behinderung auf phonetischer Ebene nicht möglich, die Laute und Worte deutlich zu artikulieren. Wegen kognitiver Mängel weicht auch seine Wortbildung vom üblichen ab. Sein Wortschatz – sowohl der passive und noch mehr der aktive – ist im Vergleich zum Nichtbehinderten stark begrenzt. Auch auf syntaktischer Ebene kommt es zu Störungen: Der Behinderte hat nur wenig Einblick in die Grammatik und den Satzbau der Sprache. Seinem Ausdruck mangelt es an Folgerichtigkeit. Auf semantischer Ebene schließlich kommt es ebenfalls zu Beeinträchtigungen: Die Bedeutung der Sprache in einem bestimmten Zusammenhang kann nicht erfaßt werden (vgl. Speck 1990). Der Geistigbehinderte weiß nicht, was sich in einer bestimmten Situation hinter den Worten und Sätzen verbirgt. Er ist daher oft nicht in der Lage, Gespräche anderer zu begreifen.

Die mangelnde Sprachbeherrschung – sowohl das Sprechen als auch das Verstehen – kann zu Angst, Unruhe und Aggression gegen sich und andere führen. Dem Geistigbehinderten fehlen befriedigende Möglichkeiten, das auszudrücken, was er denkt und fühlt. Das isoliert ihn.

Das defizitäre kommunikative Verhalten beschreibt einen Teufelskreis: Der Geistigbehinderte zeigt verringerte Bereitschaft zu verbalem Ausdruck und Sprechen, weil er erlebt, daß er nicht so sprechen und verstehen kann wie seine Umwelt, und weil er infolge ernüchternder Erfahrungen resigniert. Er schränkt den Kontakt mit der Umwelt ein und zieht sich zurück aus dem Leben der Gemeinschaft. So sind wiederum seine Möglichkeiten, sprachliche Fähigkeiten durch aktives Tun zu erwerben, eingeschränkt.

Die eingeschränkten Möglichkeiten zu kommunikativem Verhalten sind überdies manchmal geprägt von autistischen Zügen: Die Sprache wird nicht zur Kommunikation verwendet, es wird ziellos geredet um des Redens willen. Man spricht von echolalieren und paradoxer Kommunikation (vgl. Mühl 1994).

Wegen der Kompetenzen im emotionalen Bereich hat allerdings nichtverbale Kommunikation eine besondere Bedeutung für den Geistigbehinderten. Große Teile seines kommunikativen Verhaltens verlaufen nichtverbal: Über den auditiven Kanal mittels Stimmqualität und Sprechweise, über den visuellen Kanal mittels Mimik, Gestik und äußere Erscheinung und über den haptischen Kanal mittels Körperberührungen.

An die Defizite im kommunikativen Verhalten schließen sich direkt diejenigen des Sozialverhaltens an. Laut Watzlawick ist ohnehin jedes Verhalten Kommunikation (Vgl. Watzlawick/Beaven 1969). Das Sozialverhalten des Geistigbehinderten ist sehr auffällig, da es an dasjenige frühkindlicher Entwicklungsstufen zu erinnern vermag.

Häufig sind Gehemmtheiten und Selbstunsicherheiten; oder im polaren Gegensatz dazu Hemmungslosigkeiten wie Reizbarkeit und aggressives Verhalten.

In der Regel ist der Geistigbehinderte sehr mit sich selbst beschäftigt. Das Spektrum kann über Ich-Bezogenheit und Kontaktunfähigkeit bis zu autistischen Verhaltensweisen reichen. Aufgrund kognitiver Mängel fehlt ihm in extremen Fällen die Einsicht in die Existenz anderer.

Aus all diesen Defiziten folgt, daß die Erlebens- und Handlungsfähigkeit stark beeinträchtigt ist. Der Geistigbehinderte hat Schwierigkeiten, das Leben in eigener Verantwortung zu gestalten. Seine Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Selbstfindung sind eingeschränkt. Er kann nicht erkennen, worauf es ankommt, um Unabhängigkeit zu erringen. Der Behinderte erfährt täglich – bewußt und unbewußt; hauptsächlich durch andere – die Grenzen, sein Leben selbst zu bestimmen, das eigene Verhalten und Lebenseinstellungen neu oder überhaupt erst einmal zu definieren. Er spürt, daß da etwas nicht stimmt mit ihm, weiß aber nicht genau, was dies sein könnte, und auch nicht, wie es zu ändern wäre. Diese Unzufriedenheit, Angst und Ich-Schwäche trägt noch zu sozialen Störungen bei. Dem Behinderten ist die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nur eingeschränkt möglich. Abschließend betrachtet besteht die geistige Behinderung also zum größten Teil aus der Beeinträchtigung der sozialen Kompetenz.

I.2.d.) Diagnostik

Die Diagnostik dient der Feststellung der Beeinträchtigungen und ihrer Entstehungsbedingungen, der speziellen Bedarfslage und entsprechender Beeinflussungsmöglichkeiten vor jeder pädagogischen Maßnahme. Sie beinhaltet die Ermittlung der vorausgegangenen Erziehung, das Lernverhalten, die Berücksichtigung sozialer und individualer Gegebenheiten und die Ermittlung der offengebliebenen Möglichkeiten und noch zu erschließenden Ressourcen. Die erhobenen Daten sind stets regelmäßig zu überprüfen, denn alles hat Vermutungs- und Veränderungscharakter.

Für die Arbeit mit Geistigbehinderten ist eine sogenannte Förderdiagnostik vonnöten: Die Diagnose geschieht nicht nur anhand von Intelligenz- oder sonstiger psychologischer Tests, sondern mittels einer pädagogische Beurteilung von individuellem Verhalten, die mithilft, optimale Voraussetzungen für Lern- und Förderprozesse zu schaffen (vgl. Mühl 1994). Der Sozialpädagoge braucht ein mehrdimensionales Bild des jeweiligen Geistigbehinderten, um seine Fördermaßnahmen planen und durchführen zu können.

Denn um Pestalozzis oft zitiertes Wort abzuwandeln, kann gesagt werden, daß auch der Geistigbehinderte da abzuholen ist, wo er sich befindet. Die Förderung muß auf den Grundgegebenheiten des Geistigbehindertseins aufgebaut werden und hat sich insbesondere an dem individuellen Behinderungsgrad, an der sozialen Situation und an den speziellen Bedürfnissen des einzelnen zu orientieren. Hierzu ist es notwendig, die gesamte Persönlichkeit des Geistigbehinderten zu erfassen.

Diagnostische Verfahren im einzelnen sind Anamnese, Beobachtung und Tests:

Bei der Anamnese wird die Vorgeschichte des Geistigbehinderten, seine bisherige Entwicklung und Sozialisation unter pädagogischem Gesichtspunkt nachvollzogen. Der Erhebung von Informationen dienen Gespräche mit dem Geistigbehinderten selber, mit seinen Eltern und seiner Familie, mit Erziehern und Betreuern. Darüberhinaus sind ältere Entwicklungsberichte zu Rate zu ziehen. Ferner sind anderweitige Untersuchungsdaten aus dem soziologischen, psychologischen oder medizinischen Bereich zu berücksichtigen (vgl. Bach 1981).

Weiteren Aufschluß über den Geistigbehinderten liefert die Beobachtung des Verhaltens anhand systematischer Beobachtungs- und Beurteilungsbögen mit Fragen, die einen bestimmten Funktionsbereich erfassen sollen.

Als Spezialfall von Beobachtung kommen Tests unter standardisierten Bedingungen in Frage. Unter ihnen findet der Intelligenztest – besonders im Schulbereich – häufige Anwendung. Dieser Zahlenwert verallgemeinert jedoch sehr und läßt die individuellen Faktoren außer acht, die aus pädagogischer Sicht mehr interessieren (vgl. Speck 1990). IQ-Tests werden zwar angewendet, um festzustellen, ob eine geistige Behinderung vorliegt, sie reichen aber bei weitem nicht aus, anhand ihrer sinnvolle sozialpädagogische Interventionen zu planen. Kriterien für pädagogische Maßnahmen sind soziales Verhalten, Lernverhalten, lebenspraktische Selbständigkeit. IQ-Angaben verhelfen nicht zum Verständnis geistiger Behinderung, sie sind lediglich als grobe Orientierung aufzufassen und dienen der ungefähren Einschätzung des zu erwartenden Lernverhaltens.

 

I.3. Sozialpädagogische Arbeit mit Geistigbehinderten

I.3.a.) Zur Notwendigkeit pädagogischer Förderung

In der erziehungswissenschaftlichen Literatur sind viele Begriffe nicht eindeutig und allgemeingültig bestimmt. Begriffe wie Erziehung, Bildung und Förderung gehören dazu. Beschäftigt man sich mit diesen, stellt man schnell fest, daß es fast ebensoviele verschiedene Auffassungen der Bedeutung gibt, wie es Autoren gibt, die sich damit befassen. Ohne en detail in diese Diskussionen einzutreten, seien im folgenden die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Erziehung, Bildung und Förderung, die für die sozialpädagogische Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen von Belang sind, kurz umrissen:

Wenn ein Autor von Erziehung spricht, bezieht er sich in der Regel eher auf die elementaren pädagogischen Maßnahmen in der Kindheit. Adressaten der Erziehung sind in den meisten Fällen Kinder, und daher ist Erziehen oft mit dem Ziel Erwachsensein verbunden. Doch geistig behinderte Erwachsene sind schon – wie bereits gezeigt – Erwachsene. Zudem markiert Erziehung ein Hierarchiegefälle zwischen Erzieher und Zögling, auch wenn das heute immer mehr nivelliert wird. Von »Erwachsenenerziehung« zu sprechen (vgl. Krenzer 1979), kommt daher einer Diskriminierung gleich. »Auch Erwachsene mit geistiger Behinderung haben ein Recht darauf, aus dem unmündigen Status eines ‘Zöglings’ entlassen zu werden, denn jeder Mensch ist darauf angelegt, erwachsen zu werden und sich als Erwachsener in seiner Persönlichkeit zu entfalten.« (Theunissen 1993, S. 230)

Statt von Erwachsenenerziehung zu sprechen, stände es bei der Zielgruppe Geistigbehinderten eher an, von Erwachsenenbildung zu sprechen. Wie weiter unten noch zu sehen sein wird, sind die Ziele der sozialpädagogischen Arbeit mit Geistigbehinderten zum Teil identisch mit denen der Erwachsenenbildung, etwa die Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung und Gewinnung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit. Allerdings ist der institutionelle Rahmen bei Erwachsenenbildung enger: Bildung findet in Bildungsstätten statt.

Allgemeiner ist der Begriff der Förderung, welcher die beiden Bereiche Erziehung und Bildung umfaßt. Er ist eher für die Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen geeignet, denn es sollen dabei sowohl erzieherische Aufgaben als auch Bildungsaufgaben erfüllt werden. Oft überschneiden sich diese Aufgaben, das heißt, einem Förderziel ist nicht anzusehen, ob es dem Bereich Erziehung oder Bildung angehört. Diese Unterscheidung ist jedoch für die Förderarbeit nicht wesentlich. Den Geistigbehinderten zu fördern, heißt, ihn in seiner Entfaltung, bei seinem Vorankommen zu unterstützen und zu helfen. »Förderung bedeutet einen pädagogischen Bezug, der den geistig behinderten Menschen dazu befähigen und ihn in die Lage versetzen soll, sein Leben sinnvoll und möglichst autonom zu gestalten und zu bewältigen.« (Theunissen 1993, S. 232) Man spricht von Förderung, da Geistigbehinderte einen sowohl speziellen, als auch erhöhten Bedarf an pädagogischen Maßnahmen haben.

Die Notwendigkeit pädagogischer Förderung ergibt sich bereits unmittelbar aus den Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die von Beeinträchtigungen geprägt sind und den Lebensvollzug des Geistigbehinderten einschränken. Wenn man von der Prämisse ausgeht, daß der Mensch der Erziehung und der Bildung – also Förderung – bedürftig ist, dann gilt dies selbstverständlich auch für den geistig behinderten Menschen. Die Begriffsbestimmung geistiger Behinderung beinhaltet bei einigen Autoren bereits den Bedarf an Förderung (vgl. Speck 1990, Feuser 1982, Finkel 1978).

Leben ist Veränderung, und somit hat sich jeder Mensch den veränderten Bedingungen und Umständen anzupassen und neu zu orientieren. Geistig behinderte Menschen – wie auch alle anderen – verändern sich und ihr Bild von der Welt mit zunehmendem Lebensalter, daher sollte lebenslanges Lernen unterstützt werden. »Grundsätzlich braucht der Geistigbehinderte lebenslang Helfer, da ihm die unaufhebbare Spannung zwischen Eigenwelt und Umwelt stets neue Stellungnahmen abverlangt.« (Bernhard 1977, S. 20) Nicht nur der Geistigbehinderte braucht diese Helfer, aber dieser im besonderen Maße. Es gilt das Gleichberechtigungsprinzip: Geistigbehinderte haben primär die gleichen Bedürfnisse und die gleichen Rechte wie Nichtbehinderte, erst sekundär benötigen sie zusätzliche Hilfen.

Die Förderarbeit mit Erwachsenen ist nötig, um die Erziehung und Förderung der Kindheit und Jugend fortzuführen: Sonst wären deren Erfolge sinnlos. Es soll erhalten bleiben, was bisher gelernt, und nachgeholt, was bisher versäumt wurde.

Erwachsensein wurde lange als starrer Zustand aufgefaßt, in dem kein Dazu-Lernen möglich ist. Seit vielen Jahren ist sich die Pädagogik einig, daß der Mensch sein Leben lang fähig ist zu lernen. Dies gilt natürlich auch für den geistig behinderten Erwachsenen. Wie beim Nichtbehinderten ist mit der biologischen Reife die Lernfähigkeit nicht zuende. Jeder Geistigbehinderte ist prinzipiell zu Verhaltensänderungen fähig. Die spezifischen Veränderungen der Lernleistungen im Erwachsenenalter sind dabei eher eine Umstrukturierung als ein genereller Leistungsabfall. Geistigbehinderte haben ein spezielles Lernverhalten und dies muß berücksichtigt werden. Wie bereits oben gezeigt, ist geistige Behinderung von Mobilität geprägt. Die Behinderung kann sich verwandeln, sie kann ein neues Wesen bekommen und weniger wichtig werden. Behinderung ist nicht statisch, sie ist sowohl veränderlich als auch veränderbar: Sie kann sich sowohl ungerichtet verändern, als auch planvoll verändert werden. Dies bedeutet eine Chance für sozialpädagogische Maßnahmen.

Es besteht nicht nur die Notwendigkeit von, sondern auch das Recht auf Förderung: Feuser spricht vom Angebot notwendiger Hilfen als die Einlösung des Grundrechts dieser Menschen auf Erziehung und Bildung (vgl. Feuser 1982). Dies ist auch schon im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verankert: Dort wird in Artikel 2, Absatz 2 das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit proklamiert. Daß dies auch für Behinderte zutrifft, wird im Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3, Absatz 3 ausdrücklich hervorgehoben. Von vielen Autoren wird gefordert, Geistigbehinderte als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anzusehen (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974). Mithin ist es selbstverständlich, daß geeignete Fördermaßnahmen für Behinderte durchgeführt werden, bei denen die spezifischen Bedürfnisse der Geistigbehinderten berücksichtigt und erfüllt werden.

Geistigbehinderte haben lebenslangen Förderbedarf und sind somit in mehr oder weniger starkem Maße von ihrer sozialen Umwelt abhängig. Doch sollte dieser Förderbedarf nicht auf ein lebenslanges Abhängigkeitsverhältnis hinauslaufen mit lebenslanger Erziehung, Rundumversorgung und Fremdbestimmung. Auch Erwachsene mit geistiger Behinderung streben mehr Selbständigkeit, eine eigenverantwortlich-selbständige Lebensführung sowie ein sinnerfülltes Dasein an (vgl. Speck 1990). Die kognitive Bewältigung dieser Aufgabe mag zwar eingeschränkt sein, das Bedürfnis nach Autonomie besteht trotzdem.

I.3.b.) Ziele in der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen

Die Festsetzung von Zielen ist das unentbehrliche Wesensmerkmal jeglichen pädagogischen Handelns. Sie steht im Planungsprozeß nach der Analyse der Zielgruppe und vor der Auswahl der geeigneten Methoden.

Im allgemeinen Rahmen dieser Arbeit ist es nur möglich, einen Überblick über das weite Feld eventuell anzustrebender Ziele zu geben. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen von geistiger Behinderung darf bei den sozialpädagogischen Zielsetzungen nicht nach Normen, sondern lediglich nach Bedürfnissen verallgemeinert werden. Die hier aufgeführten Ziele sind also nicht für jeden Geistigbehinderten als verbindlich notwendig anzusehen, sondern nur als Katalog von in Frage kommenden Zielsetzungen zu betrachten. Für jeden einzelnen Behinderten müssen individuelle Ziele aufgestellt werden, die seiner persönlichen Bedarfslage entsprechen.

Wenn für den Einzelnen Ziele gesetzt wurden, müssen diese ständig überprüft und bei Bedarf revidiert werden. Denn der Bedarf an und das Ausmaß von Förderung verändern sich mit der Zeit, etwa durch das Erreichen eines Ziels. Daher ist es wichtig, Zielkonzepte prinzipiell flexibel- und offenzuhalten und sie immer wieder erneuten Bedarfslagen anzupassen. Die Mobilität der Behinderung bedingt die Mobilität der individuellen Zielsetzung (vgl. Bach 1979).

Das Grundprinzip bei der Arbeit mit Geistigbehinderten ist das Normalisierungsprinzip, das auch als Postulat aufzufassen ist (vgl. Mühl 1994, Speck 1990). Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht etwa darum, den Geistigbehinderten zu »normalisieren«, sondern darum, ihn so normal zu behandeln wie den Nichtbehinderten auch. Die Maßnahmen zur Förderung haben sich an der Regel zu orientieren: Es soll keine Ersatzwelt für den Geistigbehinderten geschaffen werden. Er soll die üblichen Teilnahmemöglichkeiten am Leben, an den Angeboten und Aufgaben der Umwelt erhalten. Aus rechtlicher Sicht gesehen geht es um die Sicherung gleicher Rechte für alle Menschen, so daß auch für Menschen mit geistiger Behinderung grundsätzlich gleiche – also normale – Lebensbedingungen existieren können. »Was geistig behinderte Personen an Hilfe und Diensten brauchen, hat als normal zu gelten, als selbstverständlich, so wie es auch für jeden Bürger als normal gilt, daß für ihn die Dienste zur Verfügung stehen, die er braucht: passende Schulen, Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten, ärztliche und andere Dienste.« (Speck 1990, S. 163) Dem Geistigbehinderten sind Fähigkeiten zur Lebensbewältigung zu vermitteln, die möglichst den regulären Umständen in der Gesellschaft entsprechen. Denn alle Menschen müssen sich mit Anforderungen und Veränderungen in ihrem Leben auseinandersetzen. Auch der Nichtbehinderte braucht bei dieser Auseinandersetzung Hilfe oder wenigstens Anleitung von anderen. Was ihn jedoch vom Geistigbehinderten unterscheidet, ist, daß er neue Situationen in höherem Maße bewältigen und, falls seine Fähigkeiten nicht ausreichen, freier wählen kann, in welchem Umfang und von wem er diese Hilfe bei der Lebensbewältigung erhält. Der Geistigbehinderte ist wie in allen Lebensbereichen hier viel stärker auf fremde Hilfe angewiesen.

Ausgehend vom Postulat der Normalisierung kann als oberstes Ziel die Befriedigung des jedem Menschen innewohnenden Bedürfnisses nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit angegeben werden. Wie oben aufgeführt, ist das Streben nach Selbständigkeit eine Entwicklungsaufgabe des Erwachsenenalters. Wie viele andere Bedürfnisse hat der Geistigbehinderte dieses mit dem Nichtbehinderten gemein. Und wie bei vielen anderen Bedürfnissen sind seine kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt, diese zu befriedigen. Es ist daher die zentrale sozialpädagogische Aufgabe, dem Geistigbehinderten zu helfen, die Fähigkeit zu fördern, sein Leben möglichst selbständig und autonom zu führen. Sein Dasein und seine Weiterentwicklung sollen so sehr wie möglich von seinen eigenen Entscheidungen bestimmt werden. Die absolute Unabhängigkeit wird allerdings nur schwer und sehr selten zu bewerkstelligen sein. Ebenso totale Mündigkeit, doch ist als erster Schritt die Förderung des Wachstums der Mündigkeit anzustreben. Entscheidend ist, daß der Behinderte die Opferrolle und die Fremdbestimmtheit verläßt.

Zu einem selbständigen Leben muß die Lebenswelt erschlossen werden können. Es bedarf der Kenntnis und des Verständnis von Dingen und Zusammenhängen, damit der Einzelne sich in seiner Umwelt zurechtfinden kann. Für den Geistigbehinderten ist das Erlangen grundlegender Orientierung insofern besonders notwendig, als ihm die Welt weit rätselhafter erscheint als dem Nichtbehinderten. Viele Dinge werden nicht verstanden, Zusammenhänge nicht erkannt: Die Welt wird undurchschaubar und angstmachend.

In der Zielsetzung ist eine Hierarchie zu erkennen: Teilziele sind als Vorleistungen und Voraussetzungen für das Hauptziel zu sehen. Dem Hauptziel allgemeiner Selbständigkeit haben sich die Teilziele zu dessen Erreichung unterzuordnen.

Die Teilziele müssen ein gerichtetes strukturiertes Beziehungsgefüge darstellen, das sich an den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten des jeweiligen Geistigbehinderten und seiner Lebenswelt orientiert. Sie sind nicht streng voneinander geschieden, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Daher sollen sie auch nicht als unabhängige Faktoren aufgefaßt werden; immer müssen sie im Zusammenhang und in bezug auf den Einzelnen gesehen werden. Es ist auf Ausgewogenheit zu achten: Kein Bereich darf vernachlässigt werden, keiner übertrieben. Und schließlich sollen diejenigen Bereiche besonders gefördert werden, in denen besonderer Bedarf besteht. Die Reihe der im folgenden genannten Teilziele stellt mithin auch keine Rangordnung dar.

Die Teilziele sind grob in zwei Bereiche einzuteilen: In den personalen und in den sozialen. Der personale Bereich umfaßt Maßnahmen, die zur Individuation und Persönlichkeitsbildung des Einzelnen beitragen, der soziale Bereich schließt Hilfen ein, die der Sozialisation und Integration dienen. Selbstverständlich sind die beiden Bereiche nicht voneinander isoliert aufzufassen. Zur Person gehört immer auch die soziale Umwelt. Diese Auftrennung wird hier vorgenommen, um die einzelnen Faktoren aufzuzeigen. Bach spricht von »Selbstverwirklichung in sozialer Eingliederung« (Bach 1979, S. 24).

Von entscheidender Bedeutung ist die Förderarbeit im personalen Bereich:

Die grundlegenden Defizite der Kognition sollen mittels Training der Wahrnehmung durch Seh-, Hör-, Tast-, Geruchs- und Raumsinn behoben werden. Im Anschluß daran ist die wichtigste Aufgabe des Sozialpädagogen, dem Geistigbehinderten Lernhilfe zu sein. Aufgrund der Behinderung braucht er besondere Hilfe, um seine Lebenswelt zu erschließen und somit Selbständigkeit zu erreichen. Dem Geistigbehinderten ist lebenslanges Lernen zu ermöglichen und zu unterstützen. Er soll im Rahmen der Hilfe zur Selbsthilfe möglichst eigenständig Problemlösungsstrategien entwickeln lernen, so daß er unabhängiger wird.

Wichtige Vorleistung für die Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen ist die Förderung der Sprache. Hierbei geht es um eine Sprach-, beziehungsweise Sprecherziehung, die für Sprachverständnis, Sprechtüchtigkeit, Sprechbereitschaft und den Abbau von Sprachfehlern sorgt.

Da dem Geistigbehinderten jedoch vielfach die Möglichkeiten zu verbalem Ausdruck genommen sind, ist es wichtig, daß er Fähigkeiten erwirbt, die diesen Mangel kompensieren können. Unausgesprochenes, das heißt Nicht-Geäußertes bedeutet psychische Belastung; der Geistigbehinderte soll daher lernen, sich andere, nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen und diese kompetent anzuwenden. Daher ist ein weiteres Ziel die Förderung von Gestaltungs-, Darstellungs- und Ausdrucksfähigkeit. In diesem Zusammenhang ist ebenso seine bildliche Vorstellungskraft zu trainieren.

Grundbedingung für eine selbständige Lebensführung ist die selbständige Bewältigung alltäglicher Belange. Der Geistigbehinderte bedarf zu diesem Zweck der Vermittlung lebenspraktischer Kenntnisse und Fähigkeiten zur Bewältigung des Alltags in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Verkehr und sonstiges öffentliches Leben. Angestrebt wird der Erwerb von Fertigkeiten zur Selbstversorgung und zur Sicherung der eigenen Existenz. Zum Bereich des Lebenspraktischen gehört sowohl die Handlungskompetenz für die Bewältigung alltäglicher Verrichtungen als auch das Vertrautsein mit den Gegebenheiten, Vorgängen und Wirkungszusammenhängen der Umwelt, etwa räumliche und zeitliche Orientierung.

Wichtige pädagogische Aufgabe ist die Stärkung der Person. Der Behinderte bedarf der Förderung seiner Durchsetzungsfähigkeit und Selbstbehauptung. Er muß Balance finden zwischen deren Bedürfnissen und Fähigkeiten und den Anforderungen und Angeboten der Umwelt. Desweiteren braucht er Hilfe zur Überwindung persönlicher Probleme und bei Übergangsphasen, Krisen und intrapersonalen Konflikten.

Es gehört zu den wesentlichsten Bedürfnissen des Individuums, sich selbst zu verwirklichen. Der Geistigbehinderte benötigt Hilfe hierbei: Er kann seine eigene Persönlichkeit und die in ihr angelegten Fähigkeiten nicht immer selbständig entfalten.

Teil der Selbstverwirklichung ist die Selbsterfahrung, die Gewinnung persönlicher Identität durch Selbstfindung. Selbsterfahrung ist der »Prozeß der bewußten Wahrnehmung eigener und fremder Bedürfnisse, Wertvorstellungen, Fähigkeiten, Begrenzungen und Möglichkeiten. Es erfolgt eine Sensibilisierung gegenüber emotionalen Reaktionen und Ausdrucksweisen.« (Fachlexikon der sozialen Arbeit 1993, S. 818) Durch Bewußtheit über dies erlangt der Mensch Orientierung über sich: Er kann seine Entwicklungsmöglichkeiten erkennen und sich erst danach selbstverwirklichen.

In den Prozessen der Selbsterfahrung begreift der Einzelne seine Persönlichkeit und erlangt ein Selbstkonzept. Darauf aufbauend kann er seine Einstellungen und sein Verhalten ändern.

Die Identität eines Menschen ist die einzigartige Struktur der individuellen Persönlichkeit durch die einzigartige Kombination von persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnissen. Der Einzelne erlebt seine Identität durch das Bewußtsein derselben, durch Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis. Neben dieser kognitiven Komponente steht die affektive Komponente, die durch das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen geprägt ist. Der Einzelne erfährt, daß er eine einzigartige, zusammenhängende Einheit ist, die kontinuierlich besteht und die gleiche bleibt (vgl. Fachlexikon der sozialen Arbeit 1993). Der Geistigbehinderte ist wie der Nichtbehinderte auf der Suche nach der eigenen Identität. Nur stellen sich ihm die Fragen »Wer bin ich?« und »Wer möchte ich sein?« nicht so unmittelbar wie dem Nichtbehinderten. Nicht nur die Beantwortung ist ihm meist unmöglich, bereits die Fragestellung fällt ihm schwer. Ihm fehlen zudem die Fähigkeiten, dieses Bedürfnis – wie so viele andere auch – zu befriedigen. Aus diesem nichtbefriedigten Bedürfnissen erwachsen Frustrationen und Aggressionen, zuweilen auch Angst und Resignation.

Der Geistigbehinderte bedarf der Förderung auch im emotionalen Bereich. Damit er die lebenswichtige Eigenschaft eines relativ stabilen Selbstvertrauens erlangt, braucht er emotionale Zuwendung und Ansprache. Er kann sich Lebenszutrauen und Selbstwertgefühl erschließen, indem er den Erfolg eigener Aktivität erfährt. Er braucht Hilfe bei der Befriedigung elementarer emotionaler Bedürfnisse, wie etwa sich wohlfühlen oder Angst durchleben zu können. Die Ermöglichung emotionaler Teilhabe baut sein Selbstvertrauen auf und aus. Um ein erfülltes Leben zu führen, ist es nötig, daß er nicht nur seine bloße Existenz erfährt, sondern auch Sicherheit fühlt, sich angenommen fühlt, fühlt, etwas zu bedeuten, etwas leisten zu können, eine Aufgabe zu haben und für andere nützlich zu sein.

Für ein sinnerfülltes Leben braucht der Geistigbehinderte Unterstützung bei der Suche und Findung des Sinnes seines individuellen Daseins. Es ist ihm oft nicht möglich, aus eigenem Antrieb den Bereich seiner Religiosität, beziehungsweise Spiritualität zufriedenstellend zu erschließen.

Im Zusammenhang mit dem Erlangen von Orientierung über sich selbst bedarf der Geistigbehinderte Hilfe bei der Entwicklung von Haltungen, Einstellungen und sonstigen Maßstäben für sein Handeln. Er muß sich ein eigenes Bild von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität oder Liebe machen. Der Geistigbehinderte kann Wertbegriffe erfassen; es obliegt dem Pädagogen, sie ihm anschaulich, konkret und durch Handeln nahezubringen.

Zu einem selbständigen Leben gehört wesentlich die Fähigkeit, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Der Geistigbehinderte soll erkennen, daß er Entscheidungen selber treffen kann, soll und auch muß. Er soll erfahren, daß nicht immer andere für ihn entscheiden, weil er und kein anderer die Konsequenzen seines Handelns oder Nichthandelns trägt. Hierzu ist es notwendig, ihm immer wieder und in kleinen Schritten erst zwei Alternativen anzubieten und dann komplexere Entscheidungsaufgaben zu strukturieren. Oft ist diese Fähigkeit nicht oder nur rudimentär zu erreichen, dennoch gilt es, sie verstärkt anzustreben. Die Einsicht in die Verantwortlichkeit für die eigenen Entscheidungen und das eigene Handeln sind Voraussetzung für das Wahrnehmenkönnen von Rechten und Pflichten, also politische Mündigkeit. Um diese zu erlangen, sind dem Behinderten Spielräume zur Mitverantwortung und Selbststeuerung zu eröffnen. Er soll lernen, Bedürfnisse zu artikulieren und Selbstbestimmung zu üben. Die Förderung soll den Einzelnen befähigen, sein Leben so zu führen, daß er seine physischen und psychischen Bedürfnisse als Erwachsener erfüllen kann.

Aufgrund der oftmals stereotypen und monotonen Tätigkeiten am Arbeitsplatz hat die Freizeit für den Geistigbehinderten einen hohen Stellenwert. Geistigbehinderte sind aber aufgrund ihrer Beeinträchtigungen auf Anleitung und Begleitung angewiesen. Der Behinderte soll angeregt werden, seine Freizeit sinnvoll zu nutzen. In der Regel herrschen jedoch rezeptive oder gar passive Beschäftigungen vor, wie fernsehen oder ähnliches. Dadurch wird oft Langeweile erlebt. Der Geistigbehinderte ist bestrebt, bei ein und derselben Sache zu bleiben. Daher benötigt der Geistigbehinderte Motivation zu eigenem Tun. Sein Interesse soll unterstützt und aufrechterhalten werden. Ihm sollten bisweilen auch abwechselnde Tätigkeiten nahegebracht werden. Hierbei ist jedoch zu beachten, daß die pädagogische Anregung im Freizeitbereich nicht in blinden Aktionismus ausartet. Wie jeder andere hat auch der Geistigbehinderte das Recht einfach nichts zu tun, zu faulenzen. Doch selbst beim Erlernen von Erholung und Entspannung braucht der Behinderte Begleitung.

Allerdings bietet die Freizeit hervorragende Gelegenheiten für Kontakte und Freundschaften zu anderen, auch zu Nichtbehinderten. Anhand der Hinführung und Teilnahme an Freizeitaktivitäten und der Vermittlung von Freizeittechniken und Hobbys – auch gemeinsam mit Nichtbehinderten – kann Integration stattfinden. Oftmals ist die Sekundärmotivation – also etwa die Aussicht auf Gruppenerfahrungen – entscheidend für die Teilnahme an einem Angebot.

Von besonderem Belang ist die Förderung im sozialen Bereich. Das oberste Ziel ist hier die Ermöglichung sozialer Partizipation und Erreichung von Integration:

Allgemein beschreibt Integration den Zustand sinnvoll geordneter Zusammenhänge. Der Begriff der Integration wird in den Humanwissenschaften verschieden verwendet, zum Beispiel spricht man in der Psychologie von personaler Integration als Herstellung der Einheitlichkeit der Persönlichkeit eines Einzelnen. Integration in der Soziologie meint Eingliederung eines Einzelnen in die Gesellschaft. In der sozialpädagogischen Arbeit mit Geistigbehinderten geht es vor allem um die soziale Integration, also die Eingliederung in soziale Bezüge. Dabei handelt es sich sowohl um den sozialen Nahraum mit Familie, Nachbarschaft und Arbeitsleben als auch um die Gesellschaft ganz allgemein.

»Ziel jeder sozialen Integration muß es sein, daß ein Einzelner in der Gemeinschaft den Platz einnehmen kann, der ihm eine seinen Eigenheiten gemäße Entfaltung zum eigenen und allgemeinen Wohl ermöglicht.« (Bernhard 1977, S. 25) Dies gilt wohlgemerkt nicht nur für Geistigbehinderte, sondern für alle Menschen. Es ist also keine Sonderbehandlung Geistigbehinderter, sondern eine allgemeine Forderung im Sinne des Normalisierungsprinzips.

Integration ist sowohl Ziel als auch Methode. Sie ist mittels Fördermaßnahmen anzustreben und gleichzeitig der Weg, auf dem Förderung geschieht.

Integration darf keinesfalls heißen, daß der Geistigbehinderte den Nichtbehinderten angepaßt wird, er muß das Recht haben, seine Persönlichkeit beizubehalten. Genausowenig geht es darum, den Behinderten unauffällig zu machen. Integration ist ein wechselseitiger Prozeß: Auch die vermeintlich nichtbeteiligten Nichtbehinderten müssen sich anpassen. Die soziale Umwelt muß in die Fördermaßnahmen aktiv miteinbezogen werden. Integration kann nur gelingen durch gegenseitige Berücksichtigung der Besonderheiten und Bedürfnisse sowohl Behinderter als auch Nichtbehinderter. »Adressat […] ist damit nicht der behinderte Mensch ausschließlich, sondern das als behindert geltende Individuum mit seiner Befindlichkeit und Bedürftigkeit in seiner Lebenswelt.« (Theunissen 1993, S. 229) Beim Thema Behinderung darf nicht bloß das einzelne »Sorgenkind« gesehen werden: Behinderung ist ein Problem des gesamten – näheren und weiteren – sozialen Umfelds.

Es ist dem Geistigbehinderten zu ermöglichen, an der Gemeinschaft so weit wie möglich teilzuhaben. Die Behinderung ist in dem Sinne zu verändern oder ganz zu beseitigen als sie Behinderung des zwischenmenschlichen Miteinanders und der gesellschaftlichen Teilhabe ist. Dazu ist es nötig, die – wie bereits oben beschrieben – Bereiche der einzelnen Person soweit zu fördern, daß die grundlegenden Fähigkeiten zur Partizipation vorhanden sind. Um weitere Teilhabe zu ermöglichen, sind speziell die sozialen Fähigkeiten zu fördern.

Da die kommunikativen Fähigkeiten notwendige Voraussetzung für soziales Verhalten und damit für Integration sind, gilt es, die vorhandenen kommunikativen Fertigkeiten zu entwickeln und potentielle Ressourcen zu erschließen. Kommunikationsfähigkeit kann jedoch nur mittels aktiven Tuns erworben werden. Daher ist für ausreichend Gelegenheit zu Kommunikation zu sorgen. Dabei können sowohl verbale und als auch nonverbale Kommunikationsformen verlangt sein.

Der Geistigbehinderte benötigt oft besondere Motivation: Er sieht nicht unbedingt ein, warum er sich produktiv an der Kommunikation beteiligen sollte. Es herrscht rezeptives Verhalten vor, daher ist oft von Einwegkommunikation zu sprechen.

Falls die grundsätzliche Fähigkeit und Bereitschaft zu kommunizieren vorliegt, kommt es trotzdem häufig nicht zur Verständigung. Der Geistigbehinderte ist in der Regel sehr stark mit sich selbst beschäftigt, und es fehlt ihm die Gabe, die Perspektive des Gegenübers zu verstehen und auf das von ihm Gesagte einzugehen. Daher sprechen Geistigbehinderte oft aneinander vorbei. Hier ist es notwendig, des Sprecher auf den Hörer aufmerksam zu machen und mittels Metakommunikation – also Kommunikation über die Kommunikation – auf das kommunikative Geschehen aufmerksam zu machen.

Häufige Erfahrungen von mangelndem Verständnis können zu Resignation führen, welche der Bereitschaft zu neuen kommunikativen Verhalten abträglich sind.

Aufbauend auf das kommunikative Verhalten sind auch die sonstigen sozialen Verhaltensweisen auszubilden. Weil auch hierbei Lernen am besten – oder nur – durch Anschauung und Übung geschieht, sind Anlässe zu schaffen, um soziale Interaktionen zu ermöglichen, zu unterstützen und zu erweitern. Im aktiven Miteinander kann die Übernahme und das Erlernen sozialer Rollen ermöglicht werden. Durch die Teilhabe an Gruppenerfahrungen und -aktivitäten wird das Zugehörigkeitsgefühl gestärkt.

Das soziale Verhalten soll sowohl zwischen Behinderten und Nichtbehinderten als auch zwischen Behinderten untereinander stattfinden. Es ist für genügend Anlässe zu persönlichen Kontakten zu sorgen. Soziales Lernen soll allerdings nicht nur Interaktion mit Nichtbehinderten einschließen, sondern auch das Zusammenleben mit anderen Geistigbehinderten. Mittels persönlicher Kontakte und gemeinsamer Tätigkeiten kann der Geistigbehinderte der Isolation entgehen. Diese Kontakte sind zu ermöglichen und zu strukturieren.

Von entscheidender Bedeutung ist die Kooperationsfähigkeit. Der Geistigbehinderte muß lernen, mit anderen zusammen zu leben – andere, die womöglich eine andere Meinung haben als er. Korrespondierend zum selbständigen Entscheidungstreffen für sich allein muß er lernen, mit anderen gemeinsam zu entscheiden. In diesem Zusammenhang benötigt er Hilfe beim Erlernen der Bewältigung von interpersonalen, also sozialen Konflikten. Desweiteren muß er auch andere soziale Regeln kennenlernen, wie etwa Umgangsregeln, Rücksichtnahme oder Hilfsbereitschaft. Dazu gehören auch – aufbauend auf die Rolle als Mann oder Frau – Verhaltensweisen für den zwischengeschlechtlichen und partnerschaftlichen Kontakt.

Aufgrund der Ähnlichkeit der Begriffe sei an dieser Stelle auf eine Verwechslungsmöglichkeit hingewiesen: Die Arbeit mit Behinderten ist von der sogenannten Behindertenarbeit zu unterscheiden. Letztere bezeichnet die Planung von Maßnahmen und Einrichtungen, die der Eingliederung Behinderter in Gesellschaft, Arbeit und Beruf dienen. Die dafür zuständigen Stellen sind die Sozialverwaltungen der Kommunen und Länder. In diesem Zusammenhang wird auch von Rehabilitation gesprochen. Dies ist ein vorwiegend rechtlicher Begriff, der die Eingliederung Behinderter oder von Behinderung Bedrohter beschreibt. Behindertenarbeit beschäftigt sich nicht mit den Geistigbehinderten persönlich, sondern mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen für deren Förderung.

I.3.c.) Institutionen für Geistigbehinderte

Es scheint offensichtlich, daß die spezifische Förderung und Betreuung Geistigbehinderter nirgends so gut sein kann, wie in spezifischen Einrichtungen mit entsprechend ausgebildetem Personal. Aufgrund des Vorhandenseins von speziellen Einrichtungen – schon äußerlich erkennbar an der Bezeichnung »Sonder-» oder »für Behinderte« – kommt es zu dem Nebeneffekt, daß Geistigbehinderte aus den Regeleinrichtungen und Betrieben verdrängt werden. Dies läuft dem Ziel entgegen, für größtmögliche Integration der Behinderten in die Gesellschaft zu sorgen. Gemäß dem Normalisierungsprinzip soll das Leben des Geistigbehinderten weitgehend normalisiert sein, er soll also keine Sonderbehandlung erfahren, wo diese nicht nötig ist. Es sollte daher auch in speziellen Einrichtungen reger Kontakt mit der »Außenwelt« stattfinden. Oft kann dieser schon durch die räumliche Nähe, etwa zur Nachbarschaft, gewährleistet sein.

Auch Nichtbehinderte müssen das Zusammenleben mit Behinderten lernen. Nichtbehinderte und Geistigbehinderte können aber nur Erfahrungen miteinander machen, wenn sie untereinander Umgang haben. Um Vorurteile abzubauen, Diskriminierung zu verhindern und Annahme der Behinderten durch die Nichtbehinderten zu ermöglichen, reicht bloße Information über Geistigbehinderte nicht aus. Nur persönliche Erfahrungen miteinander anhand konkreter Kontakte können Einstellungen und Verhaltensweisen ändern.

Die Gliederung der Institutionen orientiert sich am Lebenslauf:

Für die ersten Lebensjahre gibt es Einrichtungen zur Früherkennung der Behinderung, zur pädagogischen Frühförderung und zur Beratung der Eltern des geistig behinderten Kleinkindes. Daran schließt sich die Elementarerziehung für Kinder im dritten bis sechsten Lebensjahr an. Neben dem Sonderkindergarten nur für geistig behinderte Kinder gibt es den integrativen Kindergarten, in dem behinderte Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten erzogen werden. Vom sechsten bis zum achtzehnten Lebensjahr ist die Sonderschule für Geistigbehinderte vorgesehen, danach in seltenen Fällen die Sonderberufsschule. In der Regel erfährt der Geistigbehinderte seine berufliche Ausbildung in der Werkstatt für Behinderte oder in speziellen, sogenannten beschützenden Arbeitsplätzen in der freien Wirtschaft. Während der Kindheit und Jugend oder im Erwachsenenalter übernimmt das Heim für Geistigbehinderte familienersetzende oder familienergänzende Funktionen. Ferner stehen ambulante Angebote wie Beratungsstellen und Erwachsenenbildungsstätten für Geistigbehinderte zur Verfügung.

I.3.d.) Methodisches Vorgehen

Die Ziele der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen ähneln zum Teil den Zielen der Arbeit mit nichtbehinderten Erwachsenen. Geistigbehinderte benötigen aber aufgrund ihrer eingeschränkten Fähigkeiten und Möglichkeiten eine umfassendere Hilfe und besondere Methodik zur Erreichung dieser Ziele. Das methodische Vorgehen bestimmt sich weitgehend durch das spezielle Lernverhalten.

Die Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen muß von den Prinzipien der Arbeit mit nichtbehinderten Erwachsenen geprägt sein: Ganz selbstverständlich müssen Erwachsene auch als solche angesprochen werden. Die Arbeit soll partnerschaftlich orientiert sein. Der Pädagoge soll anregen, unterstützen, vorschlagen, ermutigen und ausprobieren lassen statt zu belehren und zu bevormunden. Persönliche Wünsche müssen berücksichtigt, eigene Entscheidungen respektiert werden.

Geistigbehinderte müssen besonders motiviert werden. Interessen müssen geweckt und gesteuert werden. Daher ist der auffordernde Charakter des Angebots an Lernmöglichkeiten wichtig. Weil meist lustbetontes Lernen vorherrscht, ist eine gefühlsmäßige Einstimmung auf das Lernen sinnvoll. Der Einzelne sollte sich sicher und geborgen fühlen, er soll bestätigt und anerkannt werden, um offen zu sein für Neues. Der Behinderte tut viel aus Zuneigung zum Betreuer. Daher ist also das Einfühlungsvermögen und das emotionale Zugehen des Betreuers auf den Behinderten wichtig für die Motivation und den Lernerfolg: Die Beziehung ist Methode. Eine angenehme Atmosphäre in der Gruppe und ein gutes Verhältnis zum Gruppenleiter motivieren zum Lernen. Oft ist erst die Sekundärmotivation ausschlaggebend für die Teilnahme an einer Lerngruppe: Der soziale Bezug kann dem Teilnehmer wichtiger sein als das eigentliche Thema.

Da Geistigbehinderte anschaulich-vollziehend lernen, müssen ihm die Lerninhalte konkret und unmittelbar dargeboten werden. Nur mit sprachlichen Mitteln ist ein Lernziel kaum zu erreichen. Es muß versucht werden, möglichst viele Sinne des Behinderten anzusprechen. Dazu gehören neben dem auditiven, olfaktorischen und gustatorischen auch der visuelle, der kinästhetische und der haptische Sinn. Das Begreifen eines Sachverhaltes erfolgt oft erst durch das Greifen einer Sache im ursprünglichen Sinne. »Anschauung setzt beim Geistigbehinderten Handlung voraus.« (Finkel 1978, S. 22) Auch indem ihm genau gezeigt wird, wie ein Vorgang funktioniert, kann er ihn innerlich nachvollziehen. Es sollte ihm so oft es geht ermöglicht werden, durch eigenes Handeln und Tätigsein Erfahrungen zu sammeln. »Alle Umwelteroberung beginnt und ist im weiteren nur denkbar durch Selbsttätigkeit.« (Finkel 1978, S. 42) Es ist darauf zu achten, daß dem Behinderten kein Lernerfolg vorweggenommen wird, den er durch eigenes Handeln erreichen kann. Da Lernen Eigenaktivität voraussetzt und diese durch die geistige Behinderung beeinträchtigt ist, bedarf der Geistigbehinderte in besonderem Umfang der Anregung und Anleitung. Er muß etwas selber erfahren, um es zu lernen.

Die Erläuterung von Sachverhalten sollte in großer räumlicher und zeitlicher Nähe stattfinden, da es sonst dem Behinderten schwerfällt, Zusammenhänge von verschiedenen Ereignissen oder Begriffen auszumachen. Die Lerninhalte sollten überdies lebensnah sein, so daß der Behinderte Einsicht in den Zweck seines Lernens gewinnen kann. Mit vielen geistigen Behinderungen gehen Sprachdefizite einher. Während der Arbeit sollte daher oft gesprochen werden – Speck spricht vom »aktionsbegleitenden Sprechen« (vgl. Speck 1990). Der Behinderte sieht, worüber gesprochen wird und kann so einen Bezug zum Gegenstand herstellen.

Geistigbehinderte sind oft nicht in der Lage, auf ein Ziel hinzuarbeiten. Daher brauchen sie Hilfe in Form von Anleitung bei der Strukturierung. Die Aufgaben müssen in kleine und kleinste Schritte aufgeteilt werden. Doch trotz der Einteilung in kleine Schritte sollte ihm ein Einblick in den großen Zusammenhang ermöglicht werden. Er muß Gelegenheit haben, den Sinn des Ganzen zu erkennen. Durch das Erkennen von Strukturen und Zusammenhängen kann der Erfahrungsbereich und die Denkleistung erweitert werden.

Förderungsarbeit sollte immer größere Zeiträume umfassen, da die Lernschritte nur klein sind und langsam bewältigt werden können. Kontinuität in den Maßnahmen ist daher unerläßlich. Das Tempo ist der Fähigkeit des Behinderten anzupassen.

Wichtig ist die häufige Wiederholung und vor allem die stetige Wiederholung: »Die einmal schwer erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten müssen zu späteren Zeitpunkten wiederholt werden, damit sie dem Behinderten erhalten bleiben.« (Esser 1977, S. 42) Bei aller Wiederholung soll aber auch immer wieder Neues angeboten werden, weil sonst die Verlockung, sich an einen Gegenstand zu fixieren, zu groß ist und dadurch eine Weiterentwicklung gehemmt wird. Obwohl das Üben einzelner Schritte notwendig ist, muß auch als Alternative dazu die Möglichkeit bestehen, abweichende Schritte zu machen. Selbständige Aktion sollte angeregt und verstärkt werden, um einen Freiraum für eigenständige Lernerfahrungen zu schaffen. Der nächste Lernschritt sollte allerdings erst dann erfolgen, wenn der vorausgehende gelungen und gefestigt ist. Daran anschließen kann sich das Training des Transfer auf andere Bereiche.

Es ist nicht sinnvoll – und oft aufgrund der unklaren Entstehungsbedingungen auch gar nicht möglich -, Geistigbehinderte in Gruppen gleicher Behinderungsarten einzuteilen. Wenn es für sozialpädagogische Maßnahmen einer Einteilung bedarf, sollte besser in Gruppen vergleichbaren Behinderungsgrades und damit womöglich ähnlicher Förderbedürfnisse aufgeteilt werden.

Wegen der teilweise enormen Unterschiedlichkeit in der Ausprägung geistiger Behinderung und im individuellen Lernverhalten können sich Fördermaßnahmen nur begrenzt an eine ganze Gruppe zugleich richten. Der Einzelne wird oft nur dann erreicht, wenn er direkt und angemessen angesprochen wird. Alle Themen und Methoden müssen auf den einzelnen Behinderten und seine Besonderheit in bezug auf Interessen, Bedürfnisse, Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Lebensgeschichte und Lebenslage abgestimmt sein. In der Regel muß also für jeden einzelnen ein Plan für das pädagogische Vorgehen erstellt werden.

Individuelle Förderung bedeutet aber auch Isolation. Die meisten Kontakte hat der Geistigbehinderte mit seinen Betreuern. Untereinander agieren die Geistigbehinderte wenig. Der Stand der sozialen Entwicklung ist oft niedriger als der der intellektuellen oder motorischen Entwicklung, daher ist die Zusammenarbeit mit anderen schwierig. Es besteht also eindeutig Bedarf an sozialem Lernen. Soziales Lernen ist aber trotz geforderter individueller Förderung nur in der Gruppe möglich. Bei Gruppen ist auf eine überschaubare Anzahl von Teilnehmern zu achten; je nach Schwere der Behinderung ist eine individuellere Betreuung nötig. Es gilt die Maxime, Beziehung zu stiften.

Die Behinderten sollen die Fähigkeit zur Kooperation erlernen, indem sie verstehen, daß jedes Mitglied der Gruppe Fähigkeiten hat, die allen nutzen können und daß gemeinsam mehr erreicht werden kann. Wenn der Teilnehmer eine Aufgabe allein beherrscht, können Aufgaben gestellt werden, die von mehreren gelöst werden sollen. Dabei ist darauf zu achten, daß die Teilnehmer Regeln lernen und einhalten und in gewissem Maße selbständig handeln können und sich nicht zu sehr von der Tätigkeit der anderen ablenken lassen.

Nicht nur die Förderung des Einzelnen ist also wichtig. Die Lebensumwelt – also etwa Familie, Wohnheimgruppe, Arbeitsplatz, Freundeskreis und Nachbarschaft – sollte auch in die Planung und Durchführung von Fördermaßnahmen integriert werden, so daß Lernerfahrungen in diese Lebensbereiche transferiert werden können. Darüberhinaus ist Kooperation und Beratung der Miterzieher, der Familie, Bezugspersonen, Schule oder Arbeitstelle zu gewährleisten. Dies sollte in allen pädagogischen Bereichen geschehen, hier jedoch besonders.

 

zum nächsten Kapitel Zum nächsten Kapitel